ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

Vorlage und Stickerei: Abraham und die drei Engel,
Bemerkungen zu einer Stickerei im Textilmuseum St.Gallen, von Anne Wanner-JeanRichard
publiziert, 15. Nov. 1982, in: Weltkunst.

   
  Standort:
Textilmuseum St.Gallen,
Inv. Nr. J 2119
England, 2.Hä. 17.Jh. bis 18. Jh., 37cm x 42 cm,
Reinigung 1982 im Textilmuseum St.Gallen

Sticktechnik: farbiges Seidengarn auf Seidensatingewebe

Die Stickerei gehörte ursprünglich der Iklé-Sammlung an, gelangte dann in den Besitz von John Jacoby und wurde 1955, nach dessen Tod, dem Textilmuseum St.Gallen verkauft.

 
Dargestellt ist die im 1. Mose Kap. 18 beschriebene Szene vor dem Hause Abrahams: "und er trug auf Butter und Milch und von dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor und blieb stehen vor ihnen unter dem Baum, und sie assen.

Da sprachen sie zu ihm: Wo ist dein Weib Sara? Er antwortete: Drinnen in der Hütte. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen über ein Jahr; siehe, so soll Sara, dein Weib, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür der Hütte …"

 

 

 
  Abraham hat also seine Gäste reich bewirtet, und in diesem dargestellten Augenblick erkennt er in ihnen die drei göttlichen Boten, er fällt in die Knie und hört ihre Mitteilung an.
Der mittlere Engel spricht zu ihm, seine Hände begleiten seine Worte. Abrahams Hände zeigen, dass er zuhört, ja die Botschaft aufnimmt. Die Fingerspitzen seiner linken Hand bilden ziemlich genau den Mittelpunkt des Bildes.

Folgen wir der Bilddiagonale von rechts unten nach links oben, bemerken wir, dass diese eine Teilungslinie bildet zwischen Baumkrone, Himmel, den drei geflügelten Wesen.
Unter der Linie befindet sich der kniende Abraham, Sara, die Erde.
Eine Gegenbewegung macht sich bemerkbar in der Linie, die über Fuss, Rücken und Hände des Knienden zum mittleren Engel führt und in einer fernen Horizontlinie ihre Fortsetzung findet.

Auch die Senkrechte ist in diesem Bildaufbau betont durch den mächtigen Baumstamm, den stehenden Engel, die horchende Sara.

Die Stickerei übernimmt die Hauptlinien der Komposition des Kupferstiches wörtlich.

  Auf den ersten Blick sind die gestickten Hände nicht sehr deutlich erkennbar, aber bei längerer Betrachtung wird doch deutlich, dass man die verschiedenen Bewegungen, ja sogar die Ueberlänge des rechten Unterarmes vom Engel rechts aussen genau kopierte.

Vergleichen wir jedoch die Bildgründe von Stich und Stickerei, so fallen einige Verschiedenheiten auf: Der Vordergrund, die Erde, ist das eine Mal blosse Begleitung und soll nicht vom wesentlichen Geschehen ablenken. Die Stickerin dagegen fügte ablenkende Details hinzu: sie führte Blumen und Gräser sorgfältig aus, zwei Schäflein, die eher wie Kaninchen wirken, ruhen sich hier aus.

Durch die schematische Darstellung des Hintergrundes wird beim Stich der weite Raum, die Bildtiefe fühlbar, eine atmosphärische Perspektive kommt zur Wirkung. Diese Tiefe fehlt auf der Stickerei gerade dehalb, weil Kleinigkeiten dabei sind, die man mit blossem Auge gar nicht sehen könnte. Vögel, Schmetterlinge, ja Insekten sind am Himmel wiedergegeben, ein rauchender Kamin wurde beigefügt, dafür die Architektur vernachlässigt, eine personfizierte Sonne glänzt in der Höhe.

 
  Gearbeitet wurde die Stickerei auf einen Grund aus beiger Satinseide. Dieser Grund ist sichtbar im obersten Bildviertel, wo er den Himmel bildet.

Auf dem übrigen Bild ist er völlig überstickt mit bunter Seidenstickerei, sogenannter Nadelmalerei: Reihen von Satinstichen in vielen Farbabstufungen greifen ineinander über. Einzig das Wollkleid der Schafe ist mit Knötchenstich dargestellt.

Im Laufe der Jahre sind die Farbabstufungen der Stickerei stark verblasst, vor allem das Inkarnat ist hell geworden und hebt sich vom beigefarbenen Hintergrund oder von den ehemals in vielen Rottöne gestickten Gewändern kaum mehr ab.

Bis zur Vollendung einer Stickerei gibt es mehrere Arbeitsphasen zu durchlaufen. Sticharten, Material, Farben müssen ausgewählt, und eine Vorzeichnung soll auf den Grundstoff gebracht werden.
Eine Vorstellung unserer Tage ist es jedoch, dass eine solche Vorzeichnung auch von der Stickerin selber entworfen sein müsse. In früheren Zeiten kopierte man ohne Gewissensbisse von vielen gedruckten Quellen.

  Man weiss auch von besonderen Musterzeichnern, welche Vorlagen für Stickereien auswählten und diese auf den Stoff übertrugen und zum Teil auch umzeichneten.
Dazu sei als Beispiel die schottische Königin Maria Stuart genannt, für welche 1568 aus Lochleven Castle, wo sie gefangen gehalten wurde, gebeten wird um "…an imbroderer to drawe forthe such worke as she would be occupied about …".
Vor und auch während ihrer Gefangennahme hatte der von ihr angestellte Maler Pierre Oudry, solche Arbeiten ausgeführt.

Aber auch Bürgersfrauen benötigten Vorzeichner, wie ein Brief von 1575 aufzeigt. Eine Dame aus Bayern schreibt an Veritas und Dorothea Bullinger in Zürich:
"… Ich hab imer zur im willen gehabt, ich well den bildner (die Vorlage) zu dem dyssdyebich (Tischteppich) jetz schicken. So habe ich den maler noch nit konden bekumben - dann er nit hains (anheimisch) indess ers endwerfen (würde, was) jetz nich kann sein. Aber sobald es gemalet ist, so will ich euch bitten, dass ir bemiet (bemüht) mit (damit) seit"

 
  Woher nahmen die Vorzeichner ihre Motive?

Einen Hinweis finden wir nochmals bei der 1587 hingerichteten schottischen Königin Maria Stuart. Auf den von ihr gestickten "Oxford Hangings" gelangten heraldische Blumen oder Tiere zur Darstellung, die mit Stichen in Naturgeschichtsbüchern übereinstimmen, z.B. mit Bildern aus "Icones Animalium" des Zürchers Conrad Gesner, publiziert im Jahre 1560.

Ebenfalls wichtig als Quelle für Stickereivorlagen waren die Illustrationen von Bibeln. Luther hatte das neue Testament 1521 und das alte zwischen 1523 und 1534 übersetzt, und die damals neue Technik des Buchdrucks ermöglichte eine bis dahin unbekannte Verbreitung dieser deutschen Texte.

Die 1. Ausgabe des neuen Testaments mit einer Gesamtauflage von ca. 5000 Exemplaren war beispielsweise bereits nach 2½ Monaten vergriffen.

Darüber finden wir eine zeigenössische Bemerkung beim Humanisten Cochläus, der berichtet:
"Luthers Neues Testament sei durch Buchdrucker dermassen gemehrt und in so grosser Zahl ausgesprengt worden, dass auch Schneider und Schuster, ja auch Weiber und einfältige Idioten so viele von ihnen dieses neue lutherische Evangelium angenommen hatten, wenn sie auch nur ein wenig deutsch auf einem Pfefferkuchen lesen gelernt hatten, dasselbe gleich einem Brunnen aller Wahrheit mit höchster Begierde lasen …".

  Bibeln und deren Illustrationen waren also in weiten Bevölkerungsschichten sehr bekannt, und es ist nicht verwunderlich, dass Stickereien erhalten sind, die sich genau an diese Bilder anlehnen.

Als Beispiel sei eine Leinenstickerei von 1563 im Historischen Museum Basel erwähnt, welche Tobias mit dem Fisch zeigt.
Das Vorbild dazu findet sich in der um 1540 im Froschauer Verlag in Zürich erschienenen und von Hans Holbein illustrierten Bibel.

Stiche zu anderssprachigen Bibeln waren im 16. Jahrhundert ebenfalls verbreitet, so wurde 1553 in Lyon ein kleines Bilderbuch zur Bibel publiziert. Jean de Tournes gab diese "Quadrins de la bible" heraus, und der Künstler Bernard Salomon (1508-1561) erhielt den Auftrag, die von Claude Paradin geschriebenen Verse zu illustrieren.
Im selben Jahr wurden diese ins Englische, Spanische, Deutsche, Italienische und Flämische übersetzt, andere Herausgeber kopierten die Seiten, und die Bilder wurden während 100 Jahren oder länger als Vorlagen für Stickereien verwendet.

Salomons Illustration zu einer Szene aus der Tobias-Geschichte findet sich wieder als Teil einer gestickten Folge von sieben Bildern. Diese flämische Seidenstickerei, heute im Metropolitan Museum in New York, zeigt, dass die gedruckte Vorlage auch Teil einer Komposition bilden kann. In vielen Fällen sind lediglich einzelne Figuren von Illustrationen übernommen und in neuen Bildern unterschiedlich zusammengestellt worden.

 
  Die vorliegende, im Textilmuseum St. Gallen aufbewahrte Stickerei, hält sich auch in den Bildumrissen, abgesehen von einigen Details, genau an die Vorlage des Kupferstiches.

Dieser Stich gehört zu den Illustrationen des "Thesaurus Sacrarum Historiam Veteris Testamenti" und wurde 1585 von Gerard de Jode in Antwerpen publiziert.
Die Zeichnung dazu schuf Marten de Vos (1532-1603). Dieser flämische Maler besuchte nach Beendigung seiner Lehrzeit Italien und schloss sich besonders an Tintoretto an. In Antwerpen wurde er nach seiner Rückkehr typischer Vertreter des niederländischen Manierismus. Neben seiner Tätigkeit als Maler schuf er Stich-Vorlagen, welche zahlreiche Stecher der Zeit vervielfältigten. Manche wurden bis ins 18. Jahrhundert gestochen und nachgestochen.

Die genaue Uebernahme des Kupferstiches für die gestickte Szene, könnte bedeuten, dass man in diesem Falle die Vorlage direkt auf den Stoff druckte.
Aus England ist bekannt, dass Buchdruckereien bisweilen auch Muster auf Stoff druckten. Dies konnte auf Leinwand geschehen oder auf den für das 17. Jahrhundert typischen Satingrund.

  Es gibt weitere Einzelheiten, die eine Entstehung der Stickerei in England wahrscheinlich machen:
Das wollene Fell der Schäfchen ist in Knötchenstich gearbeitet, ein um 1700 in England sehr populärer Stickstich.
Ebenso ist die Liebe zu Blumen, Vögeln, Insekten für die englische Stickerei kennzeichnend.
Auch war das Bedürfnis nach verzierten Textilien in England seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bis gegen 1750 besonders ausgeprägt.

Seit 1620 befanden sich flämische Arbeiter in den Diensten von James I. (1603-1625), sie wirkten die grossen Wandteppiche. Zu den teppichverkleideten Wänden schien nichts besser zu passen als Bettvorhänge, Kissen, Kästchen, Beutel, Täschchen, ja Bilderrahmen aus textilem Material und mit Nadelverzierungen.

Unter den dargestellten Themen waren im profanen Bereich Szenen aus der Mythologie häufig, und bei den biblischen Darstellungen wurden Ereignisse aus dem Leben Abrahams vielfach abgebildet.
 
  Zwar ist es bekannt, dass im Oktober 1561 eine "Broder's Company" in England gegründet wurde. Von erhaltenen Stickereien kann dieser Gruppe allerdings nichts mit Sicherheit zugeschrieben werden.
Aus verschiedenen zeitgenössischen Dokumenten lässt sich herauslesen, dass die Stickerei im Leben der Damen der Gesellschaft eine wichtig Rolle spielte. Als besonderes Beispiel sei an die stickende Königin Maria Stuart erinnert.

Bei erhaltenen Stickereien ist es oft nur schwer möglich zu unterscheiden, ob es sich um eine professionelle oder um eine häuslichen Arbeit handelt. Von professionellen Stickern dürfte vermutlich besonders hohe Qualität von Komposition und Zeichnung zu erwarten sein, sowie die Fähigkeit, feines und schwieriges Material zu bearbeiten.

Zusammenfassend lässt sich über die Stickerei mit Abraham und den drei Engeln sagen, dass die Zeichnung wörtlich nach dem seit 1585 bekannten und sicherlich noch mindestens 100 Jahre lang verbreiteten Vorbild eines flämischen Malers gearbeitet wurde.

  Allerdings bedeutet die flämische Vorlage alleine noch keineswegs, dass auch die Stickerei flämisch sein muss, denn im 16. und 17. Jh. war es überall in Europa üblich, sich von gedruckten Vorlagen inspirieren zu lassen. Der Buchdruck hatte eine weite Verbreitung von Bildern und Motiven in alle Welten und Bevölkerungsschichten möglich gemacht.

Bei der Ausarbeitung der Stickerei übernahm man Hauptlinien und Figuren genau, änderte aber Einzelheiten, und vor allem diese zugefügten Details lassen sich mit englischen Stickereien vergleichen. In England erlebte die Stickerei im 17. Jh. eine hohe Blüte, zudem war dort zu jener Zeit flämische Kunst bekannt und beliebt.

Die Stickerei mit Abraham und den drei Engeln dürfte demzufolge in jenem Lande gegen das Ende der Blütezeit für Stickereien, also in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden sein.
       

content  Last revised 5 June, 2006