ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

Textilien aus dem Kanton Graubünden
Publiziert 1969,
in:
Schweizerische Volkskunst, Pro Helvetia, Zürich 1969, S. 31
von Anne Wanner-JeanRichard

  Literaturangaben:
1) Joseph Ringler, "Gweggeltes Tischzeug", ein Beitrag zur Geschichte der tirolischen Leinenweberei, in: Schlern 4 (1956), S. 158 ff
Erich Meyer-Heisig, Die "Brixener Tücher" und ihre Vorläufer, in: Weberei, Nadelwerk, Zeugdruck, München 1956, S. 24 ff
2) Altherr und Sutter, Alte Bündner Stickereien und Webereien, Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur, Katalog 1927
3) P. Notker Curti, Von der Textilkunst in Graubünden, in: Kreuzstich und Filetmuster aus Graubünden, Chur 1929, A. Lambert, Volkstümliche Textilkunst, in: Ciba-Rundschau Nr. 37, Basel 1939
   
 
  Stoffe, welche im Bergland Rätien entstanden, sind zum grossen Teil aus Hanf und Flachs verfertigt worden, also aus Nutzpflanzen, die seit frühesten Zeiten bekannt sind und aus denen sich eine spinnfähige Faser gewinnen lässt. Neben der eigentlichen Verarbeitung ist bereits die Pflege von der Saat bis zur Ernte in weiten Gebieten Vorrecht der Frauen, auch sind alle Arbeitsvorgänge von der Saat bis zum Spinnen von Bedeutung für das Volksleben geworden, bildet doch ein grosser Teil Anlass zu Gemeinschaftsarbeiten. Ausserdem stellen die benötigten Geräte, zum Beispiel Flachsschwingen, Hecheln, Spindeln und Rockenständer, festen Bestand der Minnegaben dar, welche der Bursche seinem Mädchen bastelte, schnitzte und bemalte.
An dieser Stelle wollen wir nun nicht näher auf Bräuche und Gerätschaften, die mit Textilien in Verbindung stehen, eingehen, sondern lediglich die Endprodukte aus Hanf und Flachs, bis zu einem gewissen Grad auch die aus Wolle, betrachten.


  Wäschestücke und Decken für festliche und feierliche Anlässe sind mit reichen Musterungen versehen worden, Musterungen, die sich in zwei Hauptgruppen gliedern lassen: es gibt Decken mit eingewebten Motiven und Tücher, welche man nach dem Weben mit verschiedenen Sticharten schmückte. Als dritte Gruppe von Gewebeverzierungen dürfen die Klöppel-, Nadel- und Knüpfspitzen nicht vergessen werden. Solche Arbeiten lassen sich im Kanton Graubünden ebenfalls antreffen. Jedoch ist es gar nicht sicher, ob sie auch hier entstanden sind. Die Wege nach den Nachbarländern Oesterreich, Italien und Frankreich wurden sehr häufig von Kaufleuten, von Soldaten, von fremden und einheimischen Reisenden begangen, denn Rätien mit seinen Pässen war schon von jeher ein Durchgangsland. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass man sehr viele Spitzen aus der Fremde eingeführt hat.

Aber nicht nur bei den Spitzen spielt der Einfluss der Nachbarländer eine grosse Rolle. Die verzierten Wäschestücke, welche das Rätische Museum in seinen Sammlungen aufbewahret, stammen zum grossen Teil aus dem Engadin und aus dem Münstertal. Diese Talschaften sind zwar in sich abgeschlossen, und wie der Chronist Duri Campell um 1650 schreibt, wurden hier "Wolle, Hanf und Flachs selber gewonnen und selber
  gesponnen", also pflanzte und verarbeitete man Hanf und Flachs, unch auch Schafwolle war in reichlicher Menge vorhanden. Man hat sich aber bei den Verzierungen dem Einfluss der Nachbarn, vor allem demjenigen des Südtirols, nicht verschlossen. So kommt es, dass die Engadiner Textilien neben dem eigenen Gepräge fremde Beeinflussung aufweisen.

In Santa Maria sind wunderschöne Webdecken entstanden; in der Hauptsache bestehen sie aus Leinwand. Musterpartien, wie stilisierte Vögel und Pflanzen und auch geometrische Motive, wurden in blauem und auch rotem Leinengarn in die Kette Schuss für Schuss eingelesen, wenn nicht bereits eine Art Damastwebstuhl verwendet worden ist. Sehr oft hat man für die Musterpartien auch Wolle verwendet. Solche Decken weisen Verwandtschaft auf mit den italienischen Decken aus Perugia und auch mit Südtiroler und Augsburger Tüchern mit Zierleisten (1). Erwähnenswert ist, das der farbigs Schussfaden der italienischen Decken hauptsächlich aus Baumwolle besteht, auch im übrigen Gewebe verwendete man Baumwolle als Schuss, die Kette besteht aus Leinengarn. Dieses als Barchent bezeichnete Mischgewebe wurde in Italien bereits im 12. und 13. Jahrhundert fabriziert.
       
 
  Im Alpenland Graubünden treffen wir Baumwolle erst relativ spät an; charakteristisch ist hier die Verwendung von roter, blauer oder schwarzer Wolle in den Musterpartien - auch Leinwand kommt vor -; in Süddeutschland entwickelte sich eine Barchentindustrie seit dem 14. Jahrhundert, aber für die Musterstreifen gebrauchte man hier meistens farbige Leinengarne.


Bei den Stickereien sind Kreuzsticharbeiten beliebt und heute wohl auch am bekanntesten. Mit Kreuzstich wurden zum Beispiel Taufgeschenkdecken, welche dem Täufling von der Patin geschenkt wurden, verziert. Sie dienten dazu, Körbe mit Backwaren für die Taufe zu decken (2). Auch als Wiegendecken fanden sie Verwendung, und wenn der Täufling erwachsen war, schenkte man die Decke weiter. Oft wurden den vorhandenen Motiven weitere Stickereien hinzugefügt; aus diesem Grunde sind die Musterungen solcher Decken meistens unregelmässig angeordnet.

Parade- oder Prunkhandtücher schmückte man ebenfalls gern mit Kreuzstich. Sie gehörten zum Bestand des bäuerlichen Hausschmuckes und wurden bei festlichen Anlässen oder wenn Besuche kamen, in der guten Stube über das eigentliche Handtuch gehängt. Auf einem ausgestellten Beispiel sehen wir die beliebten stilisierten Motive in Reihen gestickt. Daneben sind Blumenmotive so angeordnet, dass der Eindruck von kleinen Gärtlein entsteht. Ob wir in solchen Darstellungen wohl Ueberbleibsel des mittelalterlichen "hortus conclusus" vor uns haben? -
  Neben rotem und blauem Stickgarn kommt auch die schwarze Farbe vor. Auffallend viele Kinderwäschestücke wie Wickelbinden und Wiegenausstattungen sind mit schwarzen Musterungen versehen. Der Schluss liegt nun nahe - vor allem weil ja früher die Kindersterblichkeit gross war - dass es sich hier um Trauerstücke handelt. Allerdings müsste man Genaueres wissen über die schwarze Farbe als Trauerfarbe. Es ist ebensogut möglich, dass schwarzbestickte Wäschestücke einer Modetendenz entsprechen


Neben dem Kreuzstich treffen wir im Kanton Graubünden häufiger als in übrigen Schweizer Kantonen auf den sogenannten Zwiefelstrick (auch Zugöhr-Zwyfelstrick). Der Stich liegt frei auf dem Stoff und ist nur an wenigen Stellen am Rand auf diesem fixiert.
Gar nicht selten sind Kettenstich- und Plattsticharbeiten. Vor allem bei der letzteren Technik ist deutlich sichtbar, dass dieser Stich besonders geeignet ist, malerische Wirkungen zu erzielen; hier ist es möglich, runde und geschwungene Linien auch wirklich rund und geschwungen wiederzugeben, man ist viel weniger als bei Kreuzsticharbeiten vom Grundgewebe abhängig. Was die Ziertechniken ganz allgemein betrifft, so zeichnen sich die Bündner Textilien durch einen Reichtum aus, den wir in anderen Schweizer Kantonen vergebens suchen. An ein und demselben Stück sind drei bis vier Techniken eher Regel als Ausnahme.
       
 

Oberseite eines Kissenbezuges
Rätisches Museum, Chur, Graubünden, Inv.Nr. XII
verziert mit sog. Zwiefelstrickstich

 

Detail aus Wiegen Deckbettanzug
Rätisches Museum, Chur, Graubünden, Inv.Nr. XII 3B
sog. Zwiefelstrickstich (Spitzenstich, der auf der Oberfläche des Gewebes liegt und nur am Rand an diesem befestigt ist.)

       
 
  Abschliessend einige Bemerkungen zu den Motiven, die zur Darstellung gelangen. Aus der Zeit der Renaissance stammt die Liebe zum Tiermotiv. Vor allem in gegenüberliegenden und -stehenden Paaren hat man Vögel, Hirsche, Löwen, Doppeladler u.a. abgebildet. Die Tiere sind in Reihen angeordnet oder kommen in Rauten- oder Kreisformen vor, wie dies auf byzantinischen und orientalischen Seidengeweben und auch auf mittelalterlichen italienischen Stoffen der Fall gewesen war. Ohne Zweifel hat man sich noch im 17. und 18. Jahrhundert im Kanton Graubünden von diesen kostbaren Stoffen anregen lassen. Auch hat man nirgends in der Schweiz so ausdauernd wie in Bünden an alten Mustern des 16. Jahrhunderts festgehalten (3).

Unter den Pflanzenmotiven erfreute sich der Granatapfel während langer Zeit grosser Beliebtheit. Er kommt vor in Kreuzstich auf den Prunk-Bettüchern und auch als Webmuster auf den Decken von Sta. Maria. Für die Nelke hatte man in Graubünden stets eine Vorliebe; stilisiert und fast geometrisiert lässt sie sich für Borten, Kanten und Ecken in reicher Abwechslung verwenden.
  Neben den Nelken kommen auch Tulpen und Rosen vor, sowie Schwertlilien, Türkenbund, Vergissmeinnicht. Vor allem diese letzte Pflanzengruppe ist bezeichnend für die Zeit des Biedermeier, in welcher die fülligen üppigen Barockformen durch sparsame Blättchen und einsame Blütchen, durch dünne und geknickte Stengel abgelöst werden.


Zur Datierung der einzelnen Stoffe lässt sich allgemein sagen, dass die Leinen- und Wollstickerei in den Jahren zwischen 1680 und 1820 eine Blütezeit erlebte. Aber auch im forgeschrittenen 19. Jahrhundert hat man noch Motive aus früheren Zeiten kopiert. Eine genaue Entstehungszeit der einzelnen Stücke lässt sich somit nur feststellen, wenn ein aufgesticktes Datum vorhanden ist.
       
 

content   Last revised 15 December, 2005