ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

St.Galler Stickereispitze um die Jahrhundertwende - der Entwerfer Ludwig Otto Werder, von Anne Wanner-JeanRichard, publiziert in: Spitze zwischen Tradition und Avantgarde, hgg. von Gisela Framke, Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, S 76 - 84, Edition Baus, 1995

Abschnitte 1 - 4: Einleitung, Europa
Abschnitte 5 - 9: Historismus, Jugendstil in St.Gallen
Abschnitte 10 - 13: Kunst und Industrie in St.Gallen
Literatur

       

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Einleitung
St. Gallen in der Ostschweiz besitzt eine lange Tradition in der Produktion von Textilien, handelten doch St.Galler Kaufleute seit dem 13. Jh. mit Leinwand (1) und seit dem frühen 18. Jh. mit Baumwolle. Gegen 1730 verdiente vor allem die arme Bevölkerung in St.Gallens Umgebung mit Baumwollspinnen und Weben etwas Bargeld, eine Arbeit, die sie mit der Einführung von englischem Maschienengarn verlor. Später fanden manche in der Stickerei neue Möglichkeiten, denn das Besticken von Geweben wurde seit 1753 immer beliebter. In der ersten Zeit, bis gegen 1850 handelte es sich um reine, von Heimarbeiterinnen ausgeführte Handarbeit; um die Mitte des 19. Jhs begann sich die Maschinenstickerei in und um die Stadt herum zu entwickeln (2). Die ersten sogenannten Handstickmaschinen waren technische Wunderwerke, die ein Sticker mit Händen und Füssen betrieb. Erst im Laufe der Jahre verhalfen Wasserkraft und Elektrizität, sowie andere Maschinentypen wie Schifflistickmaschine und der mit einem Jacquardsystem verbundene Schiffliautomat, zu rascherer Produktion. Die Handstickerei zog sich seit den 1880er Jahren ins Appenzellerland zurück, wo unweit St.Gallens in einer hügeligen Landschaft vor allem Kleinbauern lebten. Viele Frauen verbrachten hier iher freie Zeit mit Heimarbeit, denn der Erwerb aus Milchwirtschaft, Rinder- und Schweinezucht reichte kaum zum Leben.

Ein wesentlicher Beitrag zur St.Galler Textlindustrie bedeutete die Erfindung der Maschinenspitze, die eine Weiterentwicklung der Maschinenstickerei darstellt. Auch heute noch ist für diese mechanische Spitze ein Trägergewebe nötig, auf welches mit Nadeln gestickt wird. Eine oder viele Nadeln bilden wesentliches technisches Merkmal aller St.Galler Maschinenarbeiten, im Gegensatz zu der englischen und französischen Bobinetspitze, die auf der Grundlage des Flechtens entsteht. In St.Gallen ätzt man das Trägergewebe nach dem Sticken mittels chemischer Vorgänge weg, und es bleibt die Stickerei als Ätzspitze übrig (3).
  Seit 1883 liessen sich auf diese Weise immer kunstvollere Spitzenmuster herstellen. Als Vorlagen und Vorbilder dienten historischen Spitzen, und die Produzenten gaben sich erst zufrieden, als die Maschinenspitzen sich kaum mehr von venezianischen Barockspitzen, Filetarbeiten, irischen Spitzen, ja Klöppelarbeiten usw. unterschieden.

St.Galler Geschäfts- und Handelsleute massen den Handelsbeziehungen mit dem Ausland schon seit frühesten Zeiten grosse Bedeutung zu, war doch ihre Heimat als Absatzgebiet zu klein. Bereits im 15. Jh. finden sie sich als Importeure syrischer Baumwolle in venezianischen Geschäftsbüchern verzeichnet, damals erstreckten sich Gebiete von Handelsgesellschaften von Spanien bis nach Mitteleuropa und Polen (4). 1516 hatten Schweizer Kaufleute Zusicherung freien Handels und Wandels in Lyon erhalten und im 17. Jh. dominierten sie in jener Stadt unter den fremden Kaufleuten (5). Die Gesellschaft zum Notenstein, gegründet am 15. August 1466, bildete einen ersten Zusammenschluss St.Galler Kaufleute, später ging daraus das Kaufmännische Directorium, die Handelskammer der Kantone St.Gallen und Appenzell, hervor (6).


Anmerkungen:
1 - Ziegler, Ernst; Zur Geschichte des St.Gallischen Leinwandgewerbes, in: Rorschacher Neujahrsblatt 1983, 73   Jahrgang, S. 51; und: Vom Leinwandgewerbe, in: Stoffe und Räume, Langenthal 1986, S.78
2 - Wartmann, Hermann; Industrie und Handel 1867-1880, St.Gallen 1887 und 1891-1900, St.Gallen 1918
3 - Steiger-Züst, E.A.; Die Erfindung der Ätztechnik, in: Die Stickereiindustrie an der Schweiz. Landesausstellung Bern 1914, S.36
4 - Ammann, Hektor; Die Anfänge der Leinenindustrie des Bodenseegebietes, in: Alemannisches Jahrbuch 1953, Lahr, Schwarzwald 1953, S. 17-31 und S. 62-93
5 - Schläpfer, Walter; Wirtschaftsgeschichte des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Gais 1984, S. 57-63
6 - Leuenberger, Hans Rudolf, 500 Jahre Kaufmännische Corporation St. Gallen, St.Gallen 1966, S. 12

       

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Maschinen-Produktion ausserhalb der Schweiz
Seit der Mitte des 19. Jhs wuchsen die Auseinandersetzungen um Maschinen- und Massenproduktion. Viele lehnten Serienprodukte ab und konnten in ihnen keine Kunst erkennen. Es entwickelte sich der Gedanke von Produktion in Werkstätten, und man diskutierte heftig Wert und Bedeutung von Maschinenarbeit. In unserem Zusammenhang soll vor allem dieser letzteren Frage nachgegangen werden.

England war im frühen 19. Jh. die am stärksten industrialisierte Nation, und in London entstand mit der "school of design" bereits 1837 eine erste staatliche, mit der Royal Academy verbundene Schule. Die Akademie entwickelte sich immer mehr zu einem Institut der Privilegien. Die Unternehmer ihrerseits konzentrierten sich vor allem auf technische Neuerungen, daneben standen Fragen nach gutem Absatz der Produkte, oder ob weite Kreise befriedigt werden könnten, im Vordergrund. Ästhetische Qualitäten blieben demgegenüber untergeordnet und künstlerische Werte gingen zunehmend verloren. Dies führte zu Diskussionen in der Kunstpresse und zum Zusammenschluss von Kunstgewerbe-Entwerfern.

Erwähnt sei William Morris, (1834-1896), der seit 1875 in seiner eigenen Firma den Wert handwerklicher Arbeit betonte. Sein Zeitgenosse Christopher Dresser (1834-1904), befasste sich mit der geschmacklichen Verbesserung des industriellen Serienproduktes (7). 1888 schlossen sich einige Künstler und Entwerfer der "Arts and Crafts-Bewegung" unter dem Vorsitz von Walter Crane (1845-1915) zu einem Verein zusammen. Es entstand die "Arts and Crafts Exhibition Society", die zum Ziele hatte, Ausstellungen für das Kunstgewerbe durchzuführen.
Man betonte hohe Handwerksqualität und Materialgerechtheit und wollte der Allgemeinheit handwerkliche Leistungen nahe bringen, sowie den Wunsch nach Schönheit auch in alltäglichen Gegenständen erwecken. Die Industrie sollte bewegt werden, dieselbe Art von dekorativen Formen zu verwenden. Von 1888 bis 1916 führte die Gesellschaft elf Ausstellungen durch, wobei
  Publikum und Presse die Arbeiten der Jahren von 1893 bis 1903 besonders beachtete. Erstmals besprach die Zeitschrift "The Studio" Textilien so eingehend wie andere Kunstwerke, und damit erreichten diese internationale Bekanntheit (8).

Einige Beispiele aus dem Gebiet des deutschen Sprachraums zeigen, dass sich hier Kunst und Industrie in manchen Fällen nicht vereinigen liessen, die Auseinandersetzungen aber schliesslich doch zu Lösungen führten:

Wien weihte 1864 ein staatliches Kunstgewerbemuseum nach der Beispiel des Londoner South Kensington Museums ein, es sollte zur Hebung des Geschmacks beitragen. Dazu zog man zunächst historischen Vorbilder heran, bald zeigte sich, dass für eine Verbindung von hoher und angewandter Kunst die Angliederung einer Schule nicht zu umgehen war. Diese Schule wurde 1868 eröffnet und als Einrichtung des Museums betrachtet. Erst im Jahre 1900 führten Diskussionen und Reformen zur administrativen Trennung der beiden Institute, und als weitere Folge davon entstand 1903 als private Organisation die Wiener Werkstätte. Sie arbeitete mit der Kunstgewerbeschule zusammen und war mit ihr personell eng verflochten. Hier unterrichteten Künstler der Secession wie Josef Hoffmann, Kolo Moser und andere. Für die Verbindung von individuell handwerklicher Arbeit und maschineller Massenproduktion sah man keine Lösung und lehnte Industrielle Serienfertigung ab (9).




Anmerkungen:

7 - Klesse, Brigitte; Christopher Dresser, ein viktorianischer Designer, Köln 1981, Ausstellungskatalog
8 - Parry, Linda; Textiles of the Arts and Crafts Movement, London 1988
9 - Fliedl, Gottfried, Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867-1918, Wien 1986


     
 



   

 

   

 


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In Krefeld betrachtete Friedrich Deneken, Leiter des Kaiser Wilhelm Museums sein Institut als Vermittlungsstelle zwischen Kunst und Gewerbe. Der Museumsverein erwartete von ihm eine gute Beziehung zu Kunst und Kunsthandwerk der Gegenwart, sowie die Vermittlung von Fortschritten und Erfahrungen an die Industriellen. Einen vielversprechender Anfang bedeutete die im August 1900 eröffnete Ausstellung über moderne, nach Künstlerentwürfen hergestellte Reformkleider. Unter anderen beteiligte sich der belgischen Künstler Henri van de Velde an dieser Schau, und hielt zudem einen Vortrag über seine ideale Vorstellung eines zeitlosen Frauenkleides. Deneken hatte mit seinen Bemühungen keinen Erfolg, liessen sich doch seine Ideale als Museumsmann mit wirtschaftlichen Interessen nicht vereinen. In Maschinenerzeugnissen konnte er nur minderwertige Produktkultur erblicken (10).

1902 erhielt Henri van de Velde (1863-1957) den Auftrag, in Weimar Handwerker zu beraten, das Gewerbe und Kunstgewerbe im Lande heben, in Schulen die Ausbildung von Musterentwerfern zu verbessern. Seine Aufgabe war es, Handwerkern wie Fabrikanten des Grossherzogtums Sachsens mit Auskünften und nötige Zeichnungen bei Seite zu stehen. Van de Velde erkannte bald, dass eine Grundausbildung der Handwerker fehlte, deshalb eröffnete er 1907 eine Kunstgewerbeschule mit Lehr- und Produktivwerkstätten. Obwohl hier Lehrer wie Schüler Arbeiten herstellten, und auch beide am Erlös beteiligt waren, liess sich das Ziel, die finanzielle Unabhängigkeit, nicht erreichen (11).

  In Dresden gründete der Tischler Karl Schmidt 1898 die "Dresdener Werkstätte für Handwerkskunst". In seinem Betrieb versuchte er Zweck, Gestalt und Preis gleichwertig zu behandeln, und produzierte preisgünstig in allen Bereichen des Wohnens, ob Mobiliar, Textilien oder Geräte. Dieses Unternehmen hatte raschen Erfolg und vergrösserte sich von Jahr zu Jahr. In Hellerau errichtete Schmidt ein eigenes Betriebsgebäude und später, 1909, eine ganze Gartenstadt mit angenehmen Lebensbedingungen für die Mitarbeiter. Eine gute Zusammenarbeit von Entwerfer und Ausführenden erachtete er als grundlegend, und stellte Künstler zur Schulung ein, baute Kurse für Zeichnen, Stilisieren, Modellieren im Laufe der Jahre zu einem vielseitigen Lehrprogramm aus. 1907 kam es zu einem Zusammenschluss mit den von Karl Bertsch 1902 in München gegründeten Werkstätten für Wohnungseinrichtung. Aus diesen beiden Betrieben entstanden die "Deutschen Werkstätten" (12). Im Unterschied zu anderen Entwicklungen gesellten sich bei Schmidt zum ästhetischen Beitrag, ein sozialer, pädagogischer und organisatorischer Aspekt.


Anmerkungen:
10 - Sembach, Klaus-Jürgen, und Schulte, Birgit, Hg.; Henri van de Velde, ein europäischer Künstler seiner Zeit,  Ausstellungskatalog, Köln 1992, S. 206
11 - Sembach, Klaus-Jürgen, und Schulte, Birgit, Hg., Henri van de Velde, ein europäischer Künstler seiner Zeit, Ausstellungskatalog, Köln 1992, S. 285
12 - Wichmann, Hans, Aufbruch zum neuen Wohnen, Basel, Stuttgart 1987


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Neue Impulse zur Frage Kunst und Industrie brachte Hermann Muthesius, der die Situation in England gut kannte, und der 1904 vom preussischen Handelsministerium mit der Reform der Kunstgewerbeschulen beauftragt wurde. In seinen Augen kam der Maschine ein wichtiger Teil bei der Gestaltung des Alltags zu, er war überzeugt, dass man sich mit der Massenproduktion abfinden müsse und daher mit der Industrie und nicht gegen diese arbeiten solle. Der Gründer der Dresdener Werkstätten, Karl Schmidt stimmte mit ihm überein, und von Muthesius und Schmidt ging schliesslich der Anstoss zur Gründung des Deutschen Werkbundes im Jahre 1907 aus (13). Dieser Bund umfasste Architekten, Formgestalter, Kunstgewerbler, sowie Industrie- und Handwerksbetriebe.

Als Ziel sah der Werkbund ein Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk, um so die gewerbliche Arbeit zu veredeln und die angestrebte Qualität selbstverständlich zu erreichen. Künstler und Kaufmann müssten begreifen, dass der eine auf den anderen angewiesen sei, und man nur durch gemeinsame Arbeit vorwärtskommen könne, um schliesslich auf der Grundlage industrieller Fertigung einen gegenwartsorientierten Stil zu entwickeln. Eine weitere wichtige Frage stellte die Heranbildung des Nachwuchses dar.
Die Schule sollte nicht in 1. Linie zur Kunst, sondern zum gewerblichen Geschmack erziehen und eine Verbindung mit der Praxis erwies sich als nötig. Grosse Bedeutung sah man im Vermitteln von Freude an der Arbeit, besonders an guter Arbeit. Der Staat war aufgerufen seinen Beitrag zu leisten durch das Erteilen von guten Aufträgen an Künster wie Gewerbetreibende (14).
  Aber auch im Werkbund hörten die Auseinandersetzungen nicht auf. Von sich reden machte der sog. Werkbundstreit von 1914 anlässlich der Kölner Werkbundausstellung. Auf der einen Seite standen alle Künstler, auf der anderen Hermann Muthesius, der mit seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung die Debatte ausgelöst hatte. Er meinte, für gewisse Normalbedürfnisse unserer technischen Zeit und zum besseren Export, müssten Normaltypen entwickelt werden. Van de Velde und die Künstler sahen dagegen in der Typisierung den Verlust der Individualität, des freien spontanen Schöpfertums. Dieser Streit leitete jedoch eine vertiefte Wirkungsperiode ein und stärkte den Respekt vor dem Künstler (15).




Anmerkungen:

13 - Hartmann, von G.B. und Fischer, Wend; Zwischen Kunst und Industrie. Der Deutsche Werkbund, Stuttgart 1987
14 - Ausstellungskatalog: Hermann Muthesius im Werkbund Archiv, vom 11. Oktober bis 11. November 1990, Hg. Werkbund Archiv, Berlin 1990; Vorworte von Anke Martiny und Eckhard Siepmann, S.42
15 - Ausstellungskatalog: Hermann Muthesius im Werkbund Archiv, vom 11. Oktober bis 11. November 1990, Hg. Werkbund Archiv, Berlin 1990; Vorworte von Anke Martiny und Eckhard Siepmann, S. 89


     
     
     

  Einleitung, Europa
(1-4)
Historismus, Jugendstil in St.Gallen (5-9) Kunst und Industrie
in St.Gallen (10-13)
Literature  

content Last revised 25 July, 2006