ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

St.Galler Stickereispitze um die Jahrhundertwende - der Entwerfer Ludwig Otto Werder, von Anne Wanner-JeanRichard, publiziert in: Spitze zwischen Tradition und Avantgarde, hgg. von Gisela Framke, Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, S 76 - 84, Edition Baus, 1995

Abschnitte 1 - 4: Einleitung, Europa
Abschnitte 5 - 9: Historismus, Jugendstil in St.Gallen
Abschnitte 10 - 13: Kunst und Industrie in St.Gallen
Literatur

       

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Historismus in St.Gallen

Ueber die Gestaltung des Dekors auf Textilien vom späten 19. zum frühen 20. Jh. gibt es viele Untersuchungen. Sie behandeln Jugendstil-Handstickereien oder Stoffe mit Web- und Druckmusterung, doch Maschinenstickerei und Maschinenspitzen fanden bisher wenig Beachtung. Dies mag daran liegen, dass die Spitzen zu jener Zeit entweder als Handarbeit in Heimindustrien oder in Fabriken als Maschinenarbeit entstanden, und wie im vorangehenden Kapitel ausgeführt, nahm man zu Ende des 19. Jh. Maschinenarbeiten als Kunstwerke wenig ernst, ja lehnte sie von vornherein eher ab. Nicht nur blieben die Entwerfer meistens unbekannt, auch Händler und Unternehmer waren kaum daran interessiert, die genaue Herkunft ihrer Produkte offenzulegen. Die frühesten St.Galler Maschinenstickereien der 1860er Jahre hiessen z.B. "Hamburghs", denn der Hamburger Zwischenhändler, der sie nach Amerika exportierte, wollte seine Konkurrenten nicht auf das Herkunftsland dieser preisgünstigen Arbeiten aufmerksam machen. Nachrichten aus St.Gallen fehlen auch zu Zeiten des Werkbundes, als die in Dresden herausgegebene Zeitschrift "Kunst und Industrie" viel Wissenswertes über Zeichenunterricht, Stilisieren, Maschinenarbeiten usw. publizierte (16). Es ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung, aufzuzeigen, dass man für Maschinenarbeiten Musterzeichner mit besonderen zeichnerischen Fähigkeiten benötigte, dass diese Dessinateure ihre spezielle Ausbildung an Schulen erhielten, und dass sie sich wie die Fabrikanten bemühten, künstlerisch wertvolle Entwürfe in Maschinensprache zu übertragen.

Die Maschinenstickerei konzentrierte sich in wenigen Zentren: Im Vogtland (Sachsen) gingen in den beiden Weltkriegen viele Dokumente verloren, in St.Gallen in der Schweiz bewirkten die Kriege keine Verluste, und die ohne Unterbruch
  aufbewahrten Dokumente ermöglichen es, der Entwicklung nachzugehen. Auch blieben in der Textilbibliothek alle Vorlagen bis heute zugänglich, welche Schüler und Entwerfer der Jahrhundertwende verwendeten.

Anders als europäische Grosstädte, besass St.Gallen keine tradtitonsreiche Akademie. Hier sahen die Unternehmer und die mit ihnen verbundene Handelskammer die Notwendigkeit für Ausbildung. Das Kaufmännische Directorium rief am 11. November 1867 eine Zeichnungsschule ins Leben mit einem Zeichnungskurs für Anfänger, einem Fortbildungskurs für Musterzeichner und einer systematischen Ausbildung von Musterzeichnern (17). Die St.Galler Fabrikanten beurteilten die Schule zuerst skeptisch, fanden sie aber bald nützlich, und man unterschied zwischen ausgebildeten Entwerfern und solchen, die ihren Beruf im Fabrikationsbetrieb lernten. Entwerfer arbeiteten in St.Gallen vorwiegend für die Maschinenstickerei, das einheimische Gewerbe spielte nur eine kleine Rolle. Und wie weit die Heimindustrie mit handgearbeiteten Weissstickereien Künstlerentwürfe verwendete ist bis anhin noch wenig erforscht (18).



Anmerkungen:

16 - Die Zeitschrift "Kunst und Industrie" ist vom 1. Jahrgang an, Dresden, Januar 1908, nahezu vollständig in der Textilbibliothek anzutreffen. Redaktor war Oskar Haebler, Chemnitz, dem es ein Anliegen war, mit dieser Zeitschrift ein Bindeglied zwischen Theorie und Praxis zu schaffen. Er wollte Neues prüfen, Altes ehren.
17 - Verwaltungsbericht KD, 1867 /1868, St.Gallen 1869, S.16,17
18 - Wanner, Anne; Wilhelm Koch und die feine Reliefstickerei in der Ostschweiz, in: Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte, 4, 1993, S. 367
       

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Am 29. Juli 1878 gründete das Kaufmännische Directorium das Industrie- und Gewerbemuseum (heute Textilmuseum). Vorbildcharakter für St.Gallen bekam das Wiener Museum (1864) mit angeschlossener Kunstgewerbeschule (1868). Heinrich Bendel (1845-1931), erster Direktor in St.Gallen, reiste 1878 nach Wien, um die dortigen Institute zu studieren (19), die damals unter der Leitung Rudolfs von Eitelberger ganz in historistischer Tradition standen. Das im Neurenaissance Stil gestaltete Treppenhaus des St.Galler Textilmuseums weist auf den Wiener Historimus, den Bendel während seines Aufenthaltes kennen lernte.

Bendel beabsichtigte vier Einrichtungen in einem Haus zusammenzuschliessen, nämlich die Zeichnungsschule, die Textilsammlung, die Bibliothek und die Gewerbesammlung (letztere ging 1912 an die städtische Gewerbeschule über), und 1886 konnte ein neu errichtetes Gebäude für die Institute eröffnet werden (20). Bendel musste sich bereits 1882 aus Gesundheitsgründen zurückziehen, als neuen Leiter für die Zeichnungsschule liess sich Friedrich Fischbach aus Hanau (Deutschland) gewinnen. Neben den eigentlichen Zeichnungsunterricht traten unter ihm verschiedene Spezialkurse und Unterricht in Ornamentik und Stillehre (21). Fischbach hatte in Berlin und Wien die Sammlungen historischer Gewebe studiert und deren Muster nachgezeichnet, seit 1870 unterrichtete er in Hanau Ornamentik. Auf seinen Reisen legte er selber eine Gewebesammlung an, die er nun dem Museum in St.Gallen verkaufte (22). Sein Werk "Ornamente der Gewebe" widmete er ebenfalls St. Gallen, da diese Stadt ihm einen "seinen Talenten entsprechenden Wirkungskreis bot" (23).
Leider endeten die Beziehungen weniger rühmlich, als es die begeisterten Anfänge erhoffen liessen. Nach 5 Jahren verlängerte man Fischbachs Vertrag nicht mehr (24). Die Direktorenstelle der Zeichnungsschule wurde aufgehoben, es gab nun nur noch den Direktor des Museums, der seit diesem Zeitpunkt auch die administrative Schulleitung inne hatte (25).

Als neue Lehrkraft berief das Kaufmännische Directorium Johannes Stauffacher (1850-1916), der als einer der ersten Schüler die St.Galler Zeichnungsschule absolviert und sich anschliessend in Paris zum anerkannten Zeichner weitergebildet hatte.

  Am 7. Mai 1888 übernahm er den Unterricht im "Stilisieren und Componieren unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse unserer Industrie" wobei: "das Studium der Naturformen die solide Basis bilden muss, auf welcher sich das Können der Zeichner weiter entwickelt" (26).

Mit dem Direktorenwechsel in St. Gallen vollzog sich eine Reform im Stillen: Man kehrte sich ab von Fischbach und damit auch von den Grundlagen, welche Bendel in Wien studiert hatte. In jener Stadt waren Architekt, Bildhauer, Maler vom Geiste der Renaissance durchdrungen, in der Renaissance sah man dort den vorbildlichen Kunststil, ja den deutschen Nationalstil, im Gegensatz zum Französischen.
In St. Gallen blickte die Textilindustrie traditionsgemäss eher nach Frankreich, denn die Meinung herrschte, wahre Eleganz liege im französischen Barock und vor allem im Rokoko. Nach kurzem Historismus unter Fischbach, glaubte man mit dem in Paris weitergebildeten Stauffacher, der sein Vorbild vor allem in der Natur sah und eine naturalistisch-ornamentale Richtung vertrat, den richtigen Weg zu beschreiten.


Anmerkungen:
19 - Strässle, Monica; Die textil-gewerblichen Bildungsinstitute in St. Gallen, in: Stickereizeit, St. Gallen 1989, S.52; und: Bendel, H., Studienberichte aus Wien an das Kaufmännische Directorium in St. Gallen, St. Gallen 1878, S. 6
20 - 9. Bericht IGM 1886, St.Gallen 1887, S. 1; und 10. Bericht IGM 1887, St.Gallen 1888, S. l
21 - Verwaltungsbericht KD 1881/82, St.Gallen 1883, S.14; 5. Bericht IGM 1882, St.Gallen 1883, S. 16; 1.Bericht Zeichnungsschule 1883/1884, S.4
22 - der Erwerb von Geweben von Fischbach ist bereits genannt im 1. Bericht IGM 1878, St.Gallen 1879, S. 3. Die eigentliche Sammlung kam 1882 nach St.Gallen. Fischbach verkaufte sie für DM 15'000 oder sFr.18'750 zu jährlichen Raten von mindestens sFr.3000 (Verwaltungsbericht KD 1881/1882, St.Gallen 1883, S. 17). Im 1. Bericht Zeichnungsschule, 1883/1884, S. 4,5 werden 1206 Textilgegenstände genannt, neben Bucheinbänden, Buntpapieren, Druckmustern, Steingut-Ornamenten und einem indischen Broncepfau. Im Inventarbuch des Museums Bd. 1 sind Fischbach-Textilien aufgeführt von Nr. 865 bis Nr. 1546
23 - im Einführungstext zu "Ornamente der Gewebe" von Friedrich Fischbach, Hanau 1883, S.IX
24  - Verwaltungsbericht KD 1886/1887, St.Gallen 1888, S. 23,24; sowie 5. Bericht Zeichnungsschule 1887/1888, S. 7
25 - 6. Bericht Zeichnungsschule 1888/1889, S. 3
26 - 6. Bericht Zeichnungsschule 1888/1889, S. 7; sowie bei Johannes Stauffacher in seinem Buch: Studienreisen, St.Gallen 1897, S. 181


     
     
   

 

   

 


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St.Gallen und der florale Jugendstil

In den 90er Jahren des 19. Jhs tauchte neben der Frage, ob Kunst und Industrie vereinbar seien, an verschiedenen Orten in Europa der Wunsch und das Bedürfnis nach einem neuen Stil auf. Ein wichtiger Anstoss bedeutete der ostasiatischer und japanische Einfluss, der sich unter anderem über damals neu gegründete Zeitschriften verbreitete. Man hoffte, das "darniederliegende europäische Kunstgewerbe" würde unter dem Einfluss japanischer Kunst neuen Halt und Vorbild gewinnen. Auf diese Weise sollte das Dekorative gegenüber dem Imitativen aufgewertet werden. Man bewunderte die japanischen Künstler, die jede einzelne Blumenform in sich als Ornament auffassten und Ausschnitte gaben in begrenzter, nahsichtiger Einblicksöffnung. Hier zeigte sich die Verbindung von ungebrochener Naturfrische, feinstem dekorativem Geschmack und höchster stilistischer Sicherheit. Bereits 1888 rief der Kunsthändler Samuel Bing in Paris die Zeitschrift "Le Japon Artistique" ins Leben, und 1896 eröffnete er in derselben Stadt die Galerie "Art Nouveau" mit modernen Kunstgegenständen (27). Die hier gezeigten Werke riefen nun allerdings heftige Reaktionen hervor. Konservative Kreise warnten die Entwurfszeichner vor den Neuerungen, sie sahen eine Gefahr für die gute Position, welche die französische Kunstindustrie sich in der Vergangenheit erarbeitet hatte, eine Position, die auf der Treue zur Tradtion des 18. Jhs beruhte.

Die St.Galler Industriellen interessierten sich immer für neue Märkte und deshalb auch für Ostasien. Schon im Jahre 1860 hatte das Kaufmännische Directorium versucht, in Japan und in China Absatzgebiete zu finden (28). Ein ebensogrosses Interesse bestand für den japanischen Musterstil,
  und seit dem ersten Erscheinen der Zeitschrift "Le Japon Artistique" im Jahre 1888 lag das Heft nicht nur in der Textilbibliothek, sondern ebenso in manchen Musterzimmern von Fabrikanten (29).

Des weiteren stellen die noch heute in dieser Bibliothek zugänglichen Vorlagemappen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Musterbildung dar. Ein Vergleich der Vorlagen vom Anfang der 1890er Jahre zeigt vorherrschenden Naturalismus. In jenen Jahren legte man allgemein in den Zeichnungsschulen grossen Wert auf das Zeichnen nach Natur, hier sah man das "nie versagende Vorbild für Farbe und Form" (30). Ueber das Stilisieren der Formen gab es unterschiedliche Ansichten. Den Franzosen wurde vorgeworfen, sie beachteten die Gesetzmässigkeiten von Symmetrie und Flächenverzierung zu wenig, dies führe zu einem wilden Naturalismus. Die einen verstanden unter Stilisieren das etwas strengere Zeichnen und das Weglassen von Unwesentlichem, währenddem Künstlerpersönlichkeiten die Pflanzenwelt nach ihren eigenen Vorstellungen idealisierten.



Anmerkungen:
27 - erwähnt bei Ruth Grönwoldt, Art Nouveau Textildekor um 1900, Katalog zur Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums, Stuttgart 10. Juli - 31. August 1980, S. 89
28 - Lindau, Rudolf; Handelsbericht an das Kaufmännische Directorium in St. Gallen, über Shanghai in China, St. Gallen 186l; und über Japan, St.Gallen 1862
29 - Die Zeitschrift "Le Japon Artistique" befindet sich im alten Bestand der Textilbibliothek St.Gallen, sowie unter den 1985 geschenkten Büchern aus der Textilfirma Grauer
30 - Richard Hofmann, Stilisirte Pflanzenformen in industrieller Verwendung, Plauen 1892, mit Einführungstext

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Gegen Ende der 1890er Jahre fanden manche Künstler und Textilentwerfer im floralen Jugendstil einen für Stoffe geeignete Dekorationsweise, und es herrscht heute die Ansicht, Otto Eckmann (1867-1902) habe diese besondere Stilisierung im Wesentlichen geprägt. Durch den Hamburger Museumsdirektor Justus Brinckmann lernte Eckmann japanische Holzschnitte kennen, in München zählte er seit 1896 zu den Mitarbeitern der Zeitschrift "Jugend", und er unterrichtete seit 1897 am Kunstgewerbemuseum in Berlin (31). Seine Linie zeigt zu Beginn wuchernde, schlängelnde Formen, die sich zum Teil willkürlich und unorganisch verdichten und verjüngen, und eigentlich in kurzer Zeit das Geschmacksempfinden übersättigten. Später verwendete Eckmann diese Linien zunehmend strenger und abstrakter, presste die Naturform in eine geometrische Rahmen- oder Blattform. Mit seinem Tod im Jahre 1902 gelangte die florale Stilrichtung an ein Ende.

Auch für Henri van de Velde besass die Linie eine besondere Kraft, in seinen Entwürfen wurde sie zum dekorativen Ornament, mit dem sich Gefühlstöne hervorrufen liessen, er sah in ihr einen Träger des emotionalen Ausdrucks (32) und beschäftigte sich mit den Gesetzmässigkeiten ihrer Bewegung über Jahrzehnte. Von der einfachen Linie gelangte er zu komplexen Flächenmustern und schenkte der Ausgewogenheit zwischen positiv schwarzen und negativ weissen Flächen grösste Aufmerksamkeit. Strengere, abstraktere, auch kleinteiligere Muster wurden in der Folge vor allem durch den Einfluss der Wiener Werkstätte beliebt. Hier ist Joseph Hoffmanns (1870-1956) Stil von Geradlinigkeit geprägt, und sein konstruktives Gefüge wird von geometrischen Ornamenten akzentuiert (33).

Die genannten Vorlageblätter der Jahrhundertwende zeigen den Uebergang von Naturalismus zum floralen Jugendstil sehr deutlich: Richard Hofmann (1852-1903), Leiter der 1875 eröffneten "königlichen Kunstschule für Textilindustrie" in Plauen (34), gab in den 1890er Jahren naturalistische und wenig stilisierte
  Blumenmuster als Vorlagen heraus. Seine späteren Beispiele weisen deutliche Einflüsse japanischer Kunst und des floralen Jugendstils auf.

In den Vorlagen von H. Frilling, Berlin, lassen sich ostasiatische Formen wiederfinden, und in den Arbeiten von Gabriel Prévot (1876-1927) aus Saint-Quentin, Frankreich, kann man dieselbe Entwicklung von Naturalismus zum floralen Jugendstil verfolgen.

Die Vorlageblätter bildeten in erster Linie Inspiration zu Stoff-Verzierungen, und Maschinenarbeiten wie handgefertigte Spitzen konnten daraus resultieren. Anregungen bildeten deshalb in St.Gallen auch die Abbildungen handgearbeiteter Spitzen des Wiener "k.k. Central Spitzenkurses" (35), die besonders schöne Beispiele des floralen Jugendstils darstellen. Diese Spitzen gehen auf den Entwerfer J. Hrdlicka (1857-1907) zurück, der in Wien seit 1879 arbeitete, seit 1891 als Hilfslehrer, seit 1898 als Professor bezeichnet wird. Seine Reise im Jahre 1898 an verwandte Institute, auch nach St.Gallen (36) ist belegt.


Anmerkungen:

31 - Fiedler-Bender, Gisela; Otto Eckmann, ein Hauptmeister des Jugendstils, Ausstellung im Kaiser Wilhelm  Museum, Krefeld 1976; und: Otto Eckmann, Vorlagen für ornamentale Malerei, Berlin, 1897. In der Einleitung heisst es: Diese Entwürfe sind weder von alten Meistern entlehnt, noch von Mitlebenden gestohlen, sondern aus der umgebenden Natur entstanden.
32 - Sembach, Klaus-Jürgen, und Schulte, Birgit Hg., Henri van de Velde, ein europäischer Künstler seiner Zeit, Ausstellungskatalog, Köln 1992, S. 118
33 - Schweiger, W.J., Wiener Werkstätte. Kunst und Handwerk 1903-1932, Wien, 1982, S. 220
34 - Richard Hofmann, Concurrenzarbeiten für die Spitzen- und Stickerei Industrie, Plauen um 1900; sowie derselbe als Herausgeber in: Muster für Textilindustrie, Serie 5
35 - Einführungstext zu Oesterreichische Spitzen von Dr. Fritz Minkus, Wien und Leipzig, o.J; sowie J. Hrdlicka,  Entwürfe für Moderne Spitzen
36 - Gisela Framke, Dortmund, machte freundlicherweise auf entsprechende Eintragungen in den Personalakten   im Wiener Institut aufmerksam.



 
 
 
     

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In St.Gallen nahm der Dessinateur Ludwig Otto Werder (1868-1902) in der Auseinandersetzung um den neuen Stil eine wichtige Stellung ein. 1883 erhielt er seine ersten Grundlagen als Stickereientwerfer in der Zeichnungsschule und konnte sich mit Direktor Fischbach nicht recht anfreunden (37). Seine Ausbildung setzte er 1885 in einem St.Galler Stickereibetrieb fort, daraufhin erweiterte er seine Kenntnisse von Anfang 1888 bis Herbst 1889 in einem Entwerferatelier in Paris. Von der Pariser Weltausstellung von 1889 zeigte er sich besonders beeindruckt. Neben Samuel Bings Zeitschrift "Le Japon Artistique" lernte er sicherlich auch dessen Geschäft mit ostasiatischer Kunst und japanischen Holzschnitten kennen, denn Einflüsse solcher Holzschnitte lassen sich in seinen Entwurfszeichnungen wiederfinden.

Zurückgekehrt in seine Vaterstadt, arbeitete Werder zunächst für verschiedene Stickereifirmen. 1890 trat er dem seit 1882 bestehenden Entwerfer-Verein St.Gallen bei (38), wo man ihn bald mit speziellen Aufgaben betraute: 1891 amtete er als Aktuar, von 1896 bis 97 als Vereinspräsident. Hier fühlte er sich nicht am richtigen Platz, stellte er doch in seinem Jahresbericht abschliessend fest: .....ich bin zum Entschlusse gekommen, dass ich für einen Präsidenten nicht geschaffen bin und bitte Sie: lassen Sie mich wieder unter das Volk! (39).

Am l. Nov. 1896 begann Werders Lehrtätigkeit an der Zeichnungsschule, als Lehrer für Musterkomponieren für Maschinenstickerei. Im Jahresbericht heisst es: "Herr Werder wurde mit der Aufgabe betraut, im Musterzeichnen für Maschinenstickerei und verwandte Gebiete zu unterrichten", und weiter: "Die Abteilung wird nach dem Plane geführt, dass im engeren Anschluss an das vorausgegangene Fach des Naturzeichnens einfache, in grossem Rapport gehaltene Flächenmuster entworfen werden; allmählich wird die Aufgabe bestimmter und enger gefasst und schliesslich eine spezielle Technik zu Grunde gelegt, für welche die Zeichnung zu berechnen ist" (40).

Im Sommer 1897 unternahm er im Auftrage des Museums eine Reise nach Leipzig und Brüssel (41), die Ausstellung in Dresden desselben Jahres, die Henri van de Velde in Deutschland bekannt machte, wird ihm nicht entgangen sein. Diese und weitere auf der Reise empfangenen Eindrücke und Studien bildeten wichtige Anregungen zu seinem 1. Vorlagewerk, herausgekommen im Januar 1898.
In der Einleitung dazu steht, er wolle darstellen, wie die heutige Geschmacksrichtung sich in Spitzentechnik ausdrücken lasse, und einen Beweis erbringen, für die Existenzberechtigung der jetzt sich Bahn brechenden Dekorationsweise (42).
  1901, drei Jahre darauf, erschien ein weiterer Band mit Mustervorlagen (43), und Otto Alder, sein Vorgesetzter lobte vor allem die Ausführung der Zeichnungen, die sorgfältig und wohlstudiert seien, im Gegensatze zu manchen ausländischen Publikationen (44). Die Muster lassen sich in vier Gruppen einteilen, nämlich in grössere Formate für Vorhänge, in "bandes" oder sind Besatzstreifen für Kleider, in ganz schmale und einfache Streifen, und schliesslich in eine Gruppe mit kleinrapportigen Stoffmusterungen, den sog. "allovers".

Vor allem diese letztere Gruppe ist bei Werder bereits 1898 mehrfach vertreten, und eine Ausgewogenheit zwischen positiven und negativen Formen ist deutlich erkennbar. Im ersten Mappenwerk haben die Vorlagen oftmals breite, starke Linienführungen, die an japanische Holzschnitte erinnern. Die 2. Vorlagensammlung zeigt auf derselben Seite grosse und kleine Muster vereint. Hier finden sich feine, zarte Blütenkompositionen, floraler Jugendstil in seiner anmutigsten Ausprägung.

Anmerkungen:
37 - L.O.Werders Ein- und Austritt in die Zeichnungsschule ist festgehalten im 1.-3. Bericht der Zeichnungsschule von 1884-1886, vgl. Anhang: Schülerlisten. In Privatbesitz ist L.O.Werders Tagebuch erhalten, das er vom 27. August 1885 bis am 10. Januar 1893 führte.
38 - Hochuli, Urs, Der Entwerfer-Verein St.Gallen, 1882 - 1982, Die Geschichte eines Berufsverbandes, aufgezeichnet anlässlich des 100-jährigen Jubiläums. St. Gallen 1982
39 - Jahresbericht vom Zeichner-Verein für das Jahr l896, Januar 1897, aufbewahrt bei den chronologisch geordneten Dokumenten des Zeichnervereins, Textilmuseum St.Gallen
40 - Verwaltungsbericht KD 1895/1896, St.Gallen 1897, S. 18; Bericht IGM 1. Mai 1896 - 30. April 1897. St.Gallen 1897, S. 12,15.
41 - Bericht IGM 1.Mai 1897 - 30.April 1898, St.Gallen 1898, S. 5 heisst es:..."Die Reise gab Anlass zu mehreren Ankäufen und zum Studium der Spuren, welche die sogenannte "moderne" Richtung des Geschmackes in kunstgewerblichen Schöpfungen aufweist. Ausgiebiger konnte letzteres geschehen auf einer Reise welche Herr Werder im Auftrage des Museums unternahm und die ihn ebenfalls nach Leipzig, dann aber nach Brüssel führte, wo, unter dem Einflusse des nahen Paris, der Strom der neuen Ideen schon stärker und ursprünglicher fliesst und verdaulichere Früchte gezeitigt hat".....Auf Seite 12 desselben Berichtes:..." Herr Werder hat gegen Ende des Jahres als Frucht der auf seiner Reise empfangenen Eindrücke und seiner Studien in moderner Richtung, die erste Abteilung eines Werkes "Dentelles nouvelles" herausgegeben".....
42 - L.O. Werder, Neue Spitzen. Entwürfe für Spitzen, Stickereien, Gardinen in moderner Auffassung, Zürich 1898
43 - L.O. Werder, Dentelles Nouvelles, types modernes pour dentelles broderies, rideaux, 2me série, Plauen 1901, l. und 2. Auflage
44 - Otto Alder, der neue Stil in der Stickereiindustrie, in: Tagblatt der Stadt St.Gallen vom 22.11.1901
     

  Einleitung, Europa
(1-4)
Historismus, Jugendstil
in St.Gallen (5-9)
Kunst und Industrie
in St.Gallen (10-13)
Literature  

content Last revised 26 July, 2006