ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

"Sankt Galler Spitzen", von Anne Wanner-JeanRichard, publiziert in: Das ist Spitze, Begleitheft zur Sonderausstellung im Historischen Museum Luzern, 25. Januar bis 7. Mai 1995, Historisches Museum Luzern 1995, S. 25 - 39.

Abschnitte 1-5: Anfänge. Zu einigen Ostschweizer Entwerfern.
Abschnitte 6-12 : Ende 19. Anfang 20. Jahrhundert - Verschiedene Einflüsse. Schulen. Literatur.
 

1
Anfänge

Anfänge der St.Galler Stickereiindustrie
und die ersten Entwerfer in der Ostschweiz

In der Ostschweiz kam das Verzieren von Geweben mit Stickerei in den 1750er Jahren auf und entwickelte sich rasch. Zusammen mit Kettenstich kommen feine Durchbrucharbeiten vor und verleihen den Stickereien einen spitzenartigen Charakter. Der Kettenstich wurde mit einem Häklein auf den Stoff gebracht, eine Technik, die man als Tambourieren bezeichnet, und die Diderot schon 1763 in seiner Enzyklopädie beschreibt.

Ein Ratsprotokoll in St.Gallen von 1773 erwähnt bereits 6000 stickende Personen und für 1790 nennt der Historiker H. Wartmann die enorme Zahl von 30'000 bis 40'000 in der Stickerei beschäftigten Personen. Aus dem 18. Jh. haben sich allerdings im Textilmuseum nur vereinzelte Stickereien erhalten, erst für das 19. Jh. vermittelt die St.Galler Sammlung ein besseres Bild. Ein Dokument für das Vorhandensein der feinen Weissstickerei in der Ostschweiz gibt uns Goethe im Brief an Christiane Vulpius, vom 25. Okt. 1797. Hier kündet er Einkäufe an "........ich habe es (ein Kleid) nach dem Muster aus der ersten Hand gekauft und erwarte es von St.Gallen, wo die Fabrik ist........"

  Die Stadt St.Gallen war hauptsächlicher Handelsplatz für die feinen Nadelarbeiten, die in Heimarbeit in der Umgebung der Stadt, in Appenzell, auch im Oesterreichischen (Vorarlberg) verfertigt wurden. Bis zur Mitte des 19. Jhs handelte es sich um reine Handarbeit. Darnach entwickelte sich die Maschinenstickerei mehr und mehr.

Eine kunstvoll in Kettenstich und Durchbruchmusterung gearbeitete Decke hat eine interessante Geschichte, die im Jahr 1862, anlässlich ihrer Schenkung an die Bibliothek in Trogen aufgezeichnet wurde:

Der Kaufmann und Landamann Jakob Zellweger-Zuberbühler war 1804 von Trogen nach Paris gereist. Hier sollte er als Gesandter der Schweiz an der Krönung Napoleons I. teilnehmen. Bei dieser Gelegenheit suchte er Handelsvorteile für Ostschweizer Stickereien zu erlangen. Zu Hause liess er als Geschenk für Kaiserin Joséphine die erwähnte Decke anfertigen, und zwar beim Fabrikanten Michael Bruderer im Befang in Trogen.
Leider zerschlugen sich die Unterhandlungen mit Frankreich, und der gestickte Schal blieb in der Familie Zellweger, bis Georg Zellweger diesen 1862 an die Bibliothek Trogen schenkte.

       

2
1.Hä.19.Jh.

Stickereientwurf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die Handstickerei entwickelte sich in der Ostschweiz, besonders im Kanton Appenzell. Hier lebten in einer hügeligen Landschaft vor allem Kleinbauern, die von Milchwirtschaft, Rinder- und Schweinezucht oft kaum leben konnten, und deshalb verbrachten viele Frauen unzählige Stunden mit Heimarbeit.
Ein Jahr nach der grossen Hungersnot von 1818 soll ein erster Stickkurs in Appenzell stattgefunden haben. Zwei Französinnen führten damals 7 Teilnehmerinnen in die Kunst des Plattstiches ein. Woher die Entwürfe zu den Stickereien stammten ist nicht genau bekannt. In verschiedener Literatur wird erwähnt, dass vorgezeichnete Stoffe aus Paris in die Schweiz gesandt und hier mit Stickerei versehen wurden. Die folgenden Unternehmerbiographien lassen aber vermuten, dass es auch in dieser ersten Jahrhunderthälfte Musterentwerfer gegeben haben muss.

Johann Ulrich Sutter (1793-1869) und sein 19 Jahre jüngerer Bruder
Johann Jakob Sutter (1812-1865)
Johann Ulrich Sutter wuchs in kleinbäuerlichen Verhältnissen auf, und übernahm die Nachfolge eines führerlos gewordenen Unternehmens (von Rudolf Binder 1747-1815, Fabrikant, der über 200 Weber beschäftigte).
Er betrieb Grosshandel mit Mousseline und Grobstickerei, exportierte nach Italien, USA, Südamerika, Ostindien. In seinem Geschäft bildete er seinen jüngeren Bruder Johann Jakob Sutter aus, und ermöglichte ihm einen 2-jährigen Welschlandaufenthalt. Jener spezialisierte sich auf Feinstickerei. Er erhielt Preismedaillen an der Berner Industrie-Ausstellung von 1848 und an der Weltausstellung von 1851 in London.
  Johannes Bänziger (1804-1840)
Er verweilte 3 1/2 Jahre in Yverdon und absolvierte in St.Gallen eine kaufmännische Lehre, darauf gründete er ein eigenes Geschäft in seinem Geburtsort Lutzenberg.
Aus diesem anfänglich kleinen Betrieb entwickelte sich ein angesehenes Etablissement, das vor allem Handstickereien herstellen liess.

Ein zweites Unternehmen gründete er in Höchst, unter der Bezeichnung Schneider & Comp., später Schneider & Bänziger. Seine Waren exportierte er nach Deutschland, Oesterreich, Italien, Holland, Belgien, England, Russland, Polen und USA.

Bänziger besass eine eigene Weberei, Druckerei, Bleicherei und Appretur, er beschäftigte Sticker in Inner- und Ausserrhoden, im Rheintal, in Bayern, im Vorarlberg und Tirol. Die Gesamtzahl seiner Arbeiter wird auf rund 4000 angegeben. Bänziger besuchte die meisten Kunden regelmässig selber, und als er im November 1840 von einer Reise nach Italien zurückkehrte, erlag er einem Nervenfieber.

An der Industrie-Ausstellung in Wien 1839 erhielt er mit einer hervorragenden Stickerei den 1. Preis. Auch spätere Ausstellungen zeigten Stickereien aus seiner Produktion. Das Württembergische Landesmuseum Stuttgart erwarb laut Inventarangaben Taschentücher der Firma Schneider & Bänziger an der Münchner Ausstellung von 1854 (GT 1795-97, 1799).
Das Textilmuseum St.Gallen, und andere, vor allem amerikanische Sammlungen, weisen ähnliche Taschentücher mit vergleichbaren Stickereien in ihren Beständen auf.


3
W. Koch

Wilhelm Koch (1823-1897)

Er war das 6. von 8 Kindern des Glasermeisters und Stadtwaagemeisters Hartmann Koch aus Althanau (Deutschland) und der Pfarrerstochter Maria Elisabeth Fritz.
Aus der Jugendzeit ist bekannt, dass der als Graveur bezeichnete Wilhelm am Hanauer Turnerzug von 1849 teilnahm. Nach seiner Entlassung am 9. August 1849 in Bern, begab er sich nach St.Gallen. Von 1849-1857 sind keine Angaben erhalten, in dieser Zeit könnte er sich zum Textilentwerfer weitergebildet haben.

Weitere Daten sind in St.Gallen zu finden: im Februar 1857 beantragte W. Koch die Entlassung aus dem kurhessischen Staatsverband, weil er sich in St.Gallen niederlassen wollte. Im Raggionenbuch ist er am 1. Mai 1857 eingetragen als Dessinateur in der Firma Custer, Koch & Cie, Handlung und Fabrikation feiner Stickereien, und kurz darauf, am 16. Juli 1857 bürgerte er sich in Stein (Toggenburg) ein.

Wilhelms Bruder Hartmann betätigte sich seit 1854 im oben genannten Stickereigeschäft, dieses musste aber bereits am 15. Sept. 1861 aufgelöst werden. In der Folge betrieb Wilhelm bis zu seinem Tode 1897 eine Nähmaschinenhandlung.

Wilhelm Koch war verheiratet mit Dorothea Ochs und die beiden hatten 2 Söhne. Der 1854 geborene Justus Wilhelm nannte sich William, weil er weit herumreiste, in Südafrika am Burenkrieg teilnahm. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz verehelichte sich William mit der Thurgauerin Katharina Arnold. Der Sohn Willi kam 1909 in Stein am Rhein zur Welt. Dieser später bekannte St.Galler Kunstmaler lernte im damaligen Industrie- und Gewerbemuseum bei Hugo Pfendsack Naturzeichnen.


  Im Historischen Museum des Kantons Thurgau, Frauenfeld, konnten 173 Blätter mit Miniaturmalereien und aufgeklebten Stoffstücklein aufgefunden werden. Sie dienten als Vorlagen für feine Reliefstickereien. Eines dieser Bllätter trägt den Namenszug W.Koch, und gemäss weiteren Dokumenten im Museum stammt die ganze Sammlung aus dem Nachlass der Familie Koch. Kochs Musterblätter sind vor allem deshalb bedeutsam, weil es sich um die frühesten bisher bekannten Vorlagen aus St.Gallen und damit aus der Ostschweiz handelt. Vorlagen dieser Art müssen dazu bestimmt gewesen sein, den Kunden vorzulegen. Anhand solcher Blätter wählten sie Formen und Muster aus, und die Aufträge konnten zusammengestellt werden. Umzeichnungen, sogenannte Stüpfelzeichnungen waren anschliessend nötig. Es handelte sich dabei um feine Nadeldurchstiche, die den auf transparentem Papier gezeichneten Linien nachführten. Durch die feinen, auf diese Weise entstandenen Löcher, liess sich dunkle Farbe durchreiben, und das Muster auf den Stoff übertragen.

Kochs Musterblätter zeigen einerseits Einflüsse aus vergangenen Zeiten, wie Biedermeier oder Rokoko, mit Chinoiserien, die an Jean Pillement (1728-1808) erinnern, oder Illustrationen in Reiseberichten, z.B. über Brasilien, die 1830 ihren Niederschlag auch in der Rixheimer Tapete "Vues du Brésil" gefunden hatte. Als Graveur hätte Koch in seinen Lehrjahren mit solchen Illustrationen in Berührung kommen können.
Kochs Vorlagen zeigen Aehnlichkeiten mit den zeitgenössische Souvenirbildern (Lithographie und Prägedruck), wie sie etwa die Firma Benziger in Einsiedeln herstellte und verbreitete, oder ebenso mit Sujets aus der Appenzeller Senntumsmalerei.


     
 



   

 

   

 


4
L.O.Werder

Ludwig Otto Werder (1868-1902)

kam als zweitjüngstes von 4 Kindern am 5. Mai 1868 in St.Gallen zur Welt. Als sein Vater Johann Heinrich am 31. Januar 1883 starb, übernahm die Mutter Christina, geb. Frölich aus Weisenau bei Mainz die Entscheidung für Ottos zukünftigen Beruf.
Er sollte Textilentwerfer werden, und trat am 17. April 1883 in die damalige St.Galler Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe ein. In demselben Jahre war die Schule unter dem neuen Leiter Friedrich Fischbach aus Deutschland vergrössert worden.

Lehrjahre in Paris
Nach anderthalb Jahren wollte sich Werder mit der praktischen Seite des Entwerferberufes noch besser vertraut machen, und im Herbst 1885 begann er in der Firma Einstein, Hirsch & Cie zu arbeiten. Im Januar 1888 erweiterte er seine Kenntnisse in Paris, im Atelier von Dessinateur Christian Kreis.

Gründlich studierte er die Pariser Weltausstellung von 1889, entdeckte Stickereien, deren Entwürfe von ihm selber stammten. Im Textilmuseum St.Gallen hat sich ein handbesticktes Taschentuch der Firma Sturzenegger erhalten, welches 1889 mit einer Medaille ausgezeichnet wurde, und es könnte sehr wohl diese Stickerei sein, welche Werder damals auffiel. Dies würde bedeuten, dass Textilentwürfe zu jener Zeit für Hand- oder für Maschinenarbeiten dienten. Für Maschinenstickereien waren zusätzliche technische Umzeichnungen nötig. Leider sind solche Entwürfe
  wie die technischen Zeichnungen nur selten erhalten geblieben, sie gingen in den Besitz des Fabrikanten über, und dieser brauchte sie während dem Herstellungsprozess der Stickerei auf.

Werder kehrte im Oktober 1889 nach St. Gallen zurück und arbeitete dort in verschiedenen Stickereifirmen. In seinem Tagebuch, das er bis ins Jahr 1893 führte, vermerkt er seine Tätigkeit als Stickereizeichner in guten wie in schlechteren Zeiten.


Lehrer an der Zeichnungsschule St.Gallen

Seit dem 1. Sept. 1896 war Ludwig Otto Werder als Lehrer des Musterzeichnens für Maschinenstickerei an der Zeichnungsschule des Industrie- und Gewerbemuseums (heute Textilmuseum) tätig.
An der Schule unterrichtete damals auch der fast gleichaltrige Emil Hansen (1867-1956) aus Norddeutschland, später bekannt als Emil Nolde. 1891 hatte man ihn in St.Gallen auf Grund seiner Skizzenbücher mit historischen Ornamenten unter 34 Bewerbern als Lehrer gewählt. Als Werder an die Schule kam, war Hansen dabei, sich vom Historismus zu lösen, er hatte Kontakte mit Georg Hirth in München geknüpft, und seit 1896 zeichnete er für die Zeitschrift "Jugend". Es wäre interessant zu wissen, ob und wie weit die beiden Männer über den neuen Stil miteinander diskutierten, unterrichteten sie doch ein gutes Jahr lang an derselben Schule, doch gibt es darüber keine Dokumente.



5
L.O.Werder

Werders Vorlageblätter

Werder reiste im Sommer 1897 nach Leipzig und Brüssel. Sicher besuchte er die internationale Kunstausstellung 1897 in Dresden, eine Ausstellung, welche Henry van de Velde in Deutschland bekannt machte. Werder kam somit auch mit Ideen jenes Künstlers in Berührung.

Kurze Zeit später, nämlich auf den 1.1.1898, kam Werders 1. Vorlagemappe in Zürich heraus. 1901 erschien eine 2. Serie von Vorlageblättern, diesmal in Plauen (Sachsen), und eine 2. Auflage wurde schon bald nötig. In der ersten Serie zeigt der Autor mit einer oftmals kräftigen Linienführung eine Beeinflussung von japanischen Holzschnitten. In der zweiten Serie sind die Motive naturalistischer und mit ihren s-förmigen Schwingungen folgen sie dem damals beliebten floralen Jugendstil. Werder berücksichtigte aber auch die technischen Gegebenheiten der Stickmaschine und gelangte so zu eigenen Formulierungen, in denen er Naturalismus, neues Ornament und kleinteiliger, sich wiederholender Rapport miteinander verband.

  1898 übernahm Otto Werder einen Teil von Hansens Unterrichtsfächern, da jener im Herbst 1897 St.Gallen verlassen hatte. Vom Kaufmännischen Directorium erhielt er die Mitteilung, dass dieses "in Betracht Ihrer vermehrten Arbeit und befriedigenden Leistungen Ihr Jahresgehalt von Fr. 5000.- auf Fr. 6000.- erhöht hat".

Am 3. August 1899 heiratete Otto Werder Auguste Ochs, Tochter des Musikdirektors August Ochs.
Im Jahr darauf besuchten die beiden die Pariser Weltausstellung. Ein Sohn, August Otto wurde dem Paar im März 1901 geschenkt. Es war Werder nicht vergönnt, den Erfolg seiner Vorlagen, seines Unterrichts, seiner Bemühungen zu erleben. Im Herbst 1901 stellte sich ein Nierenleiden ein, dem er ein Jahr später, am 27. November 1902 erlag.


     
     
     

  Ostschweizer Entwerfer 19./20. Jh., Schulen  

content  Last revised 25 July, 2006