ANNE WANNER'S Textiles in History   /  publications

 
Vorhangstickerei in der Ostschweiz,
in: Textilkunst, Heft 2, Juni 1999, S. 69 bis 72, von Anne Wanner-JeanRichard


  Eine eigene und besondere Entwicklung ist in der Ostschweizer Vorhangstickerei des 19. Jhs feststellbar. Die neue Präsentation im 1. Stock des Textilmuseums St.Gallen zeigt neben anderen Erzeugnissen der Textilindustrie auch zwei hervorragende Beispiele dieser bestickten Fenster-behänge. Mit ihren enormen Ausmassen von oft vier Metern Höhe und manchmal über zwei Metern Breite war bisher das Ausstellen problematisch. In speziell konstruierten, schmalen und hohen Vitrinen sind die delikaten Stoffe nun geschützt, und es ist dennoch möglich, sie aus der Nähe genau zu betrachten.

Die neuen Bauten, die in den Städten im letzten Viertel des 19. Jh. entstanden, bewirkten eine erhöhte Nachfrage nach transparenten Stickereien, und man unterschied zwischen Store, Rideaux und Vitragen. Währenddem die letztere direkt in die Fensterrahmen gespannt wurden, hingen die Stores von der Decke auf den Boden, sie waren auf allen 4 Seiten auch motivlich abgeschlossen und ausgearbeitet. Das Spiel von Licht und Schatten bildete ein wichtiges Zierelement, deshalb bestickte man aufeinanderliegenden Tüll und feine Baumwoll-Mousseline gleichzeitig und schnitt später den Baumwollstoff in den Muster-Zwischenräumen weg, der Tüllgrund jedoch blieb stehen.

Als Sticktechnik kam vor allem Kettenstich in Frage, eine Technik die um die Mitte des 18. Jhs von Lyon in die Ostschweiz gelangt sein soll.
  Damals stellte das straffe Einspannen des Geweben in einen speziellen Rahmen eine Neuerung dar, und mit der ebenfalls neuartigen Tambourier- oder Häkelnadel liess sich nun ohne grosse Mühe Schlinge um Schlinge durch den Stoff ziehen. Neben solchen Linien aus Kettengliedern kommen auch Langstich, das ist ein gepolsterter Satinstich, wie Zierstiche im Tüllgrund vor.


Die Kettenstich- oder “Cornély”-Maschine aus Frankreich war in der Schweiz zwar seit 1867 bekannt, aber sie verbreitete sich nur langsam, die Stickerinnen blieben dem Tambourierrahmen weiterhin, bis in die 1870er Jahre treu.

Im Jahre 1882 sollen erste Beispiele in Ausschneide- oder Spachteltechnik entstanden sein. Bei dieser Technik bilden die beiden aufeinander liegenden Stofflagen ebenfalls die Grundlage, nun bestickte man sie jedoch mit Maschine und schnitt später beide Stofflagen an gewünschten Stellen in den Musterzwischenräumen heraus, dies ergab neue, besondere Wirkungen von Licht und Schatten.
Im Jahre 1888 berichtet die Handelskammer, mit der Spachteltechnik sei nun endlich die “Waffe” gefunden, um mit dem englischen Nottingham erfolgreich zu konkurrieren. Im letzten Viertel des 19. Jh. wurde die Kettenstichmaschine für die sog. Grobstickerei unentbehrlich und diente vor allem für die massenhafte Herstellung von Vorhängen.

   
     

  Für die frühen, wie für die maschinell hergestellten Vorhänge lieferten Musterzeichner Vorlagen. Der Kunstzeichner Johannes Schlatter-Brüngger (1822-1899) setzte sich bereits 1863 in einem Zeitungs-artikel ein für eine Verbesserung des Geschmacks durch Ausbildung, und er wies auf die Vorteile der Pariser “école d’application de l’art et de l’industrie”. Im Jahre 1867 gründete die Handelskammer, das damalige Kaufmännische Directorium, eine Zeichnungsschule in St.Gallen, und setzte Schlatter als deren erster und während 15 Jahren alleinigen Leiter ein. Für Schlatter bildete das Studium der Pflanzen und der Natur Grundlage, aber die Naturformen sollten nicht wild wuchern, vielmehr sollte die Ornamentik herausgearbeitet, und also die Naturform streng stilisiert werden.

Ein hervorragendes, noch mit Tambourierrahmen und Tambourierhäklein verfertigtes Beispiel aus den 1870er Jahren, ist die 410cm x  252cm messende Store mit Szenen aus Preussens Geschichte. Der Vorhang befindet sich heute im Textilmuseum St.Gallen, konnte aber leider seiner Grösse wegen nicht ausgestellt werden. Die Darstellung von damals aktuellen Ereignissen sollte mithelfen, den Export zu fördern und andererseits auch die Leistungsfähigkeit der Schweizer Produktion beweisen. Exportzahlen zeigen denn auch, dass die
  Ostschweiz bis in die frühen 1870er Jahre vielfach für englische und deutsche Auftraggeber arbeitete. Dem gegenüber zeigte sich Oesterreich veraltet ausgerüstet, und dies alles führte zum Verlust seiner Vormachtstellung im Deutschen Bund.

Neben dem stilisierten Pflanzenornament, wie es in Schlatters Unterricht gelehrt wurde, finden sich auf dem Vorhang an zentraler Stelle die Wappenschilder mit dem preussischen Adler und dasjenige des englischen Königshauses mit der Umschrift “honni soit qui mal y pense” und “Dieu est mon droit”. Sie weisen auf die Verbindung von Kronprinz Friedrich Willhelm von Preussen, dem späteren Kaiser Friedrich III., mit der Tochter Königin Victorias und Prinz Alberts von England.
Im Zentrum stehen drei von Kanonen flankierte uniformierte Männer, welche die kriegerischen Auseinandersetzungen der 1860er Jahre andeuten: Nach der Schlacht bei Königsgrätz vom 3. Juli 1866 erfolgte die Trennung von Oesterreich, es entstand der Norddeutsche Bund mit dem König von Preussen als erblichem Präsidenten. In diesem Krieg bediente sich Preussen modernster Waffen wie auch neuester technischer Errungenschaften, wie Eisenbahn und Telegraphie.
   
     

  Auf dem Vorhang stehen die drei Krieger auf dem Rücken eines bärtigen Mannes. Dieser am Boden Liegende stellt ohne Zweifel Oesterreich dar, denn er versucht vergeblich, die Fahne mit dem Doppeladler hochzuhalten.
Mit dem vom Kürassierhelm bedeckten Soldaten ist vermutlich Preussen gemeint, beim Gegenüber handelt es sich vielleicht um England. Die nur von hinten sichtbaren Gestalt, könnte Frankreich darstellen, das zunächst eine Rolle im Hintergrund spielte. Napoleon III. hätte sich als Vermittler gerne Gebiete im Elsass abtreten lassen aber die schnelle Friedensregelung liess ihn aber nicht zum Zuge kommen.

Die Enttäuschung führte im Jahre 1870 zum deutsch-französischen Krieg, den Frankreich verlor. Noch vor der eigentlichen Friedensschliessung fand am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses die Proklamation von Willhelm I. zum deutschen Kaiser statt.

Neben den figürlichen Szenen kommen auf dem Vorhang Schiffe, Palmen, Minarette vor. Vielleicht weisen diese auf Frankreichs imperiale Politik in
  Algerien, Tunesien, Marokko, versuchte doch Bismarck nach 1871, die französischen Interessen auf koloniale Ziele abzulenken.

Spätere Vorhänge weisen auf das neue Exportziel, die USA:
Für die Weltausstellung von 1876 in Philadelphia entwarf Schlatter-Brüngger einen Vorhang mit Wappenschildern der Vereinigten Staaten und der Schweiz, ausgeführt wurde wohl auch diese Arbeit noch in Handarbeit. Eine weitere allegorisch-heraldische Amerika-Darstellung mit der Inschrift “E Pluribus Unum” im Schnabel des Adlers, entstand um 1890. Weitere Beispiel in Spachteltechnik und mit Maschine verziert, zeigen vorwiegend pflanzliche Ornamente, die aufwendigen allegorischen Darstellungen gehörten nun der Vergangenheit an.



vgl. auch: Marianne Gächter-Weber,
Vorhangstickerei 1870-1930, in: Stickereizeit, St.Gallen 1989, S. 69 (diese Publikation ist im Textilmuseum St.Gallen erhältlich)
   
     

content   Last revised 17 May, 2006